<< zurück
zur Übersichtbbb<<
zurück zu: Ein Leben in vier Stunden: Rostock/ Berlin
Nele Hertling Text: Ronald Düker |
Nele Hertling wird 1934 in Berlin geboren,
wächst aber an verschiedenen Orten, hauptsächlich Rostock, auf.
Nach dem Abitur kehrt sie nach Berlin zurück, zunächst in den
Ostteil der Stadt, wo sie Germanistik und Theaterwissenschaft studiert.
Von 1963 an leitet sie dann an Westberliner Akademie der Künste die
Abteilungen Tanz und Musik und übernimmt schließlich die künstlerische
Konzeption für das Kulturstadtprogramm im Jahr 1988, in dessen Gefolge
sie auch die "Tanz-Werkstatt" gründet. Ein Jahr später
wird Nele Hertling Intendantin des Hebbel-Theaters und verlässt das
Haus 2003. Sie hat seitdem verschiedene kulturpolitische Funktionen, ist
Präsidentin des Deutsch-Französischen Kulturrats und leitet das
Künstlerprogramm des DAAD. Seit 2006 ist sie zudem Vizepräsidentin
der Akademie der Künste. Nele Hertling sagt von sich selbst, dass sie
auf einem Nebenweg zum Tanz gekommen ist. Zur Kunst kam sie aber wohl in
gerader Linie durch ihre Familie. Die Eltern waren beide Musiker, der Vater
Komponist und Bratscher, die Mutter Pianistin. Und auch in der Generation
der Großeltern liegen bereits musische Wurzeln, sie stehen aber noch
im Kampf mit kaufmännischen Traditionen, die sich insbesondere mit
der Seefahrt und der Hansestadt Rostock verbinden. Hertlings Großvater
stammt aus Mecklenburg und entscheidet sich bereits als junger Mann für
eine Karriere auf hoher See. Vom Schiffsjungen bringt er es bis zum Kapitän
eines Segelschiffes, mit dem er für eine Antwerpener Reederei um den
Globus reist. Er verschifft aber nicht nur Guano nach Europa, sondern auf
eigene Initiative auch Klaviere nach Lateinamerika. Wenn Hertling sich heute
für argentinische Theaterkunst und Tango begeistert, dann weiß
sie, dass viele Instrumente, die in lateinamerikanischen Hafenkneipen zu
finden sind, ihre Herkunft unter Umständen ihrem Großvater verdanken
könnten. Ohne es zu wollen oder auch nur geahnt zu haben, wäre
er damit bereits ein Agent auf dem Feld des globalen Kulturtransfers gewesen.
Als die großen Segler allmählich von Dampfschiffen verdrängt
werden, wird der Großvater in Rostock sesshaft. Er baut ein Haus,
in dem er eines Tages Strümpfe mit Geld und Golddukaten auf den Tisch
entleerte. Es ist genug, um eine Kalkbrennerei zu bauen, die wenige Jahre
später mitsamt ihres hoch explosiven Inhalts in Flammen aufgeht. Noch
heute, sagt Nele Hertling, erinnern sich alte Rostocker an den Brand bei
Kalk-Schröder. In Rostock verbringt Nele bis zum Abitur wichtige Jahre
und erfährt eine musische Prägung, die ihre weitere Arbeit bestimmen
sollte. Während Großvater Schröder im Kaufmännischen
verwurzelt bleibt und seinem Sohn Hanning eine musikalische Karriere nur
nach längerem Zögern gestatten soll - ein älterer Bruder
ist zuvor Arzt geworden - ist Nele das Kind eines Künstlerpaars. An
der Seite von Hanning Schröder, der aus dem Umfeld Paul Hindemiths
kommt, sich für Arnold Schönberg und die Zwölftöner
begeistert und selbst eine Komponistenlaufbahn vor sich hat, studiert nämlich
auch Neles Mutter in München, wo die beiden sich kennen gelernt haben,
Musik. Sie entstammt einer jüdischen Familie aus Breslau, wo der Vater,
ein Pianist und bekannter Liedbegleiter - zu seinem Verhängnis aber
auch leidenschaftlicher Casinobesucher - zurückgeblieben ist, weil
er seine zum Teil nach Jena übergesiedelte Familie nicht mehr ernähren
kann. In Jena lebt Neles Großmutter bei ihrem Schwager im ersten Privathaus,
das der Architekt Walter Gropius überhaupt gebaut hat, und das zu einem
kulturellen Zentrum seiner Zeit geworden ist. Künstler wie Edward Munch
gehen hier ein und aus, Neles Großonkel ist sogar auf einem seiner
Bilder verewigt. Neles Eltern studieren also Musik in München, die
Mutter nimmt Klavierstunden bei Max Reger, der Vater spielt Geige und Bratsche,
mit der er später lange Jahre sein Geld verdienen soll. Seine wahre
Leidenschaft aber gilt der Musikwissenschaft und einem Kammermusiktrio,
in dem er sich bereits in den frühen dreißiger Jahre um die Aufführungspraxis
alter Musik verdient macht. Der Nationalsozialismus macht vieles davon zunichte.
Von 1934 darf Neles Mutter Cora aufgrund ihrer jüdischen Abstammung
nicht mehr auftreten. Der Vater arbeitet indessen weiter, er leitet eine
Kammermusikensemble am Düsseldorfer Schauspielhaus, wo der Intendant
Gustav Gründgens der Theatermusik längst große Bedeutung
beimisst. Dann der Umzug nach Berlin, Hanning Schröder spielt Bratsche
im Stummfilmorchester an der Budapester Straße, später im UFA-Orchester
Babelsberg und bis zu den Luftangriffen auf Berlin im Orchester des von
Piscator geleiteten Metropol-Theaters. In dem Reihenhaus, das die Eltern
in einer Zehlendorfer Bauhaus-Siedlung gekauft haben, kommt Nele 1934 zur
Welt. Zu ihren frühen Erinnerungen gehört das Klavierspiel der
Mutter, um das Nele stets bat, wenn ihr die Situation in dem leeren Haus
allzu große Angst machte. Aus Sicherheitsgründen - niemand wusste
schließlich, wie lange die Mutter vor Verrat und drohender Deportation
zu schützen war - wird sie 1942 zu Freunden der Familie an den Chiemsee
geschickt, ein Jahr später kommt Mutter Cora nach. "Händchen
falten, Köpfchen senken und an Adolf Hitler denken" ist ein Merkspruch,
den Nele Hertling noch immer aus ihrer frühen Schulzeit in der bayerischen
Provinz erinnert. 1944 siedeln Mutter und Tochter in ein mecklenburgisches
Dorf über, wo sie von einem befreundeten Pfarrer untergebracht werden.
Eine Bühne im Garten des Hauses, Krippenspiele, eine Dornröschen-Aufführung
- gemeinsam mit anderen Kindern erprobt sich Nele in der Theaterpraxis und
stellt sich zum ersten Mal eine Frage, die sie ihre ganze spätere Laufbahn
über beschäftigen soll: "Wie findet man Publikum". Die
Kinder entwickeln eine Art Werbestrategie und ziehen als Trüppchen
durchs Dorf, wo sie interessiert vor ihren selbst gemalten Plakaten stehen
bleiben. Das funktioniert, sie wecken so die Neugier auch der anderen Dorfbewohner.
Von da an, sagt Nele Hertling, hat sie das Theater nicht mehr losgelassen.
Während der Vater in Berlin geblieben ist und bleibt, erlebt Nele das
Kriegsende in Mecklenburg. Die Mutter bleibt auch weiterhin in dem Dorf,
wo sie als Organistin Geld verdienen kann. Nele geht aufs Gymnasium nach
Rostock und bleibt dort bis zum Abitur. Sie empfindet das Kriegsende als
Befreiung und die Stimmung in der zerstörten Stadt nicht als depressiv.
Das Rostocker Stadttheater, zu dem die Bürger ein inniges Verhältnis
pflegen, wird ihr neben einem Ruderverein, der ihr als DDR-Bürgerin
Privilegien im Reiseverkehr schafft, zur wichtigsten Anlaufstelle. Hier
hat Nele ihre ersten Begegnungen mit klassischem Ballett und entscheidet
sich auch das mittlerweile erlernte Geigenspiel nicht zum Beruf zu machen.
1952 zieht sie nach Berlin. Dass ihr Vater noch immer im Westteil der Stadt
wohnt, ist dabei zunächst ein Problem. Es bringt Nele eine Ablehnung
an der Humboldt-Universität im Osten ein, wo sie sich für ein
Studium der Musik- und Theaterwissenschaften beworben hatte. Erst als die
Zugangsbestimmungen im Anschluss an den 17. Juni 1953 gelockert werden,
erhält Nele diesen Studienplatz. Sie macht unter Walter Felsenstein
ein Bühnenbildner-Praktikum an der Komischen Oper und erlebt dort wichtige
Inszenierung wie die Zauberflöte oder Janaceks "Das schlaue Füchslein"
mit. An der Universität kommt sie mit wichtigen linken Geistesgrößen
in Berührung, die zumindest in den Anfangsjahren der DDR noch ihren
Platz in der Lehre haben: Hans Mayer, Victor Klemperer und Ernst Bloch.
Zugleich dient ihr auch das väterliche Haus in Zehlendorf, das sie
mit ihren Kommolitonen zu oft nächtelangen Diskussionen immer wieder
aufsucht, zur intellektuellen Bildung. Der Vater glaubt ungebrochen an die
DDR, und so stellt sich die Frage, wie diesem Staat geholfen, wie das bessere
Leben organisiert werden könne. Die Gespräche kreisen aber immer
auch um Musik, wobei Hanning Schröder in einem Dilemma steckt. Im Westen
werden seine Werke nicht aufgeführt, weil er als Freund des Ostens
gilt und im Osten nicht, weil Schönberg und die Zwölftöner
in der DDR verteufelt wurden. Für eine vielbeachtete Toller-Inszenierung
der Theatergruppe, die Nele mit einem, bei der ostdeutschen "Weltbühne"
aktiven, Freund gegründet hat, komponiert ihr Vater die Musik. Ein
Praktikum am Deutschen Theater Halle verhilft Nele zu ihrer ersten theaterpraktischen
Arbeit. Sie wird Regie- und Dramaturgieassistentin bei der Operettenproduktion
"Frau Luna", zu der sie auch das Programmheft schreibt. Langsam
kristallisiert sich für Nele eine mögliche Arbeitsform heraus
und zugleich auch, dass ein lange heimlich gehegter Wunsch - nämlich
der, als Tänzerin selbst auf der Bühne zu stehen - unerfüllt
bleiben wird. Sie ist dazu zu alt, wird aber noch heute von einem Traum
heimgesucht, den andere im Setting einer Abiturprüfung kennen: "Ich
stehe plötzlich in einer Balletcompagnie auf der Bühne und habe
keine Ahnung, was ich dort tun soll." Ihre Universitätsjahre sind
politische Bildungsjahre, wobei sich der Widerstand gegen das System verstärkt.
Als Hans Mayer geht, Ludwig Harig verhaftet wird, schwindet der Glaube,
dass man diesen Staat aktiv mitgestalten kann, langsam dahin. Mit ihrem
Examen zur Diplomphilosophin, das Nele im Jahr 1957 an der Humboldt-Universität
ablegt, zeichnet sich ab, dass ihre Tage in der DDR gezählt sind. Ihre
Theatergruppe und das Umfeld der Weltbühne wird bespitzelt und verraten.
Unter dem Druck der Stasi, durch Vorladungen und Verhöre fällt
die alte Clique langsam auseinander, einer muss für acht Jahre ins
Zuchthaus, andere ducken sich, werden krank oder bringen sich um. Wieder
andere setzen sich unter dem hohen psychischen Druck in den Westen ab. Nele
Hertling glaubt heute, dass sie damals noch die naivste von allen gewesen
ist. Sie erkennt dennoch: Es geht nicht mehr. In Berlin lernt sie ihren
späteren Mann, den Architekten Cornelius Hertling kennen. Und mit diesem
führt der Weg aus Berlin. Durch glückliche Umstände und persönliche
Fürsprache gelingt den beiden der Weggang aus dem Osten, ohne dass
dadurch die Zurückgebliebenen oder die Familie mit politischen Restriktionen
zu rechnen haben. Sie ziehen 1959 nach London, wo Cornelius eine Arbeitsstelle
als Architekt findet und Nele als Au pair bei einem britischen Schauspieler
unterkommt. Hier kommt sie zum ersten Mal mit freien und zugleich hochprofessionellen
Theatergruppen in Kontakt, die es in Deutschland, wo die Szene durch das
subventionierte Staatstheater geprägt ist, noch nicht gibt. In London
heiraten die beiden, bekommen so auch einen westdeutschen Pass und ziehen
1960 aus ökonomischen Gründen nach Westberlin zurück. Cornelius
bekommt hier eine Stelle im Büro von Peter Poelzig, Nele bringt ihre
erste Tochter zur Welt. Während klar wird, dass sich der alte Freundeskreis
völlig zerstreut wird, muss sie sich in Westberlin, wo sie in der Bücherstube
Schöller am Kurfürstendamm, die eine wichtige Anlaufstelle für
Intellektuelle aus dem Westen ist, neu orientieren. Ein Buch, das Nele zuvor
gemeinsam mit ihrer Mutter gemacht hatte, verschafft ihr den Kontakt zur
Akademie der Künste, die im Westteil der Stadt, am Hanseatenweg im
Bezirk Tiergarten, gerade im Aufbau begriffen war. In dem von Werner Düttmann
1960 vollendeten Gebäude lernt sie mit Blacher, Thiessen, Fortner und
Pepping die wichtigsten Komponisten dieser Jahre kennen, und mit Furtwängler,
Stravinsky, Theo Otto und Ludwig Berger auch eine ganze Reihe der großen
alten Künstler, die dort ein und aus gehen. Nele Hertling wird Sekretärin
der Akademie und baut die Abteilungen für Darstellende Kunst und Musik
auf. Dazu gehört die Organisation einer Konzertreihe und von Kongressen
über elektronische Musik. Die Akademie prägt in dieser Zeit entscheidend
das künstlerische Leben in West-Berlin. Sie stellt sich die Frage,
wie Neue Kunst nach 1945 wieder in Deutschland Fuß fassen, und wie
man auch der künstlerischen Avantgarde wieder zu einem Publikum verhelfen
kann. Bei einer Reise nach New York begreift Nele Hertling, dass der Tanz
eine entscheidende Rolle im gegenwärtigen Tanzgeschehen spielt. Er
soll in der Akademie der Künst auch in Deutschland wieder eine zentrale
Stellung bekommen. Während insbesondere der Ausdruckstanz nach dem
Krieg mit einem ideologischen haut gout behaftet ist, werden die ersten
Anfänge mit Tatjana Gsovsky, Gruppen aus Paris und der musique concrète
gemacht. Als revolutionäre Erkenntnis aus der amerikanischen Szene
erwies sich, dass Choreographie, bildende Kunst und Musik kaum voneinander
zu trennen waren. Cunningham, Cage, Lucinda Childs, Trisha Brown, Laurie
Anderson und Robert Rauschenberg hatten künstlerische Gesamterfahrungen
ermöglicht, die in Deutschland noch nicht einmal in Ansätzen bekannt
waren. Gerade aber die ersten Reaktionen auf das Tanztheater zeigte, was
die historische Zäsur des Nationalsozialismus in Deutschland angerichtet
hatte. Das Unverständnis der Presse und die zurückhaltende Reaktion
des Publikums machten klar, wie schwierig es sein würde, in Deutschland
wieder kreative Möglichkeiten zu eröffnen und Verständnis
für zeitgenössische Kunst zu erarbeiten. Genau das aber war das
Anliegen der Akademie, die sich nicht darauf beschränken wollte, einfach
nur Produktionen aus dem Ausland zu präsentieren. Wenn Arbeiten von
Merce Cunningham oder Trisha Brown in Berlin gezeigt wurden, dann sollte
das die hier ansässigen Künstler zu etwas Eigenständigem
inspirieren, dazu diente auch die Gründung der Berliner Tanzfabrik.
Wenn auch das Publikumsinteresse immer mehr wuchs, und das Tanzfest schließlich
immer ausverkauft war, erwies es sich doch schwierig, eine nicht-institutionelle
Ebene für den Tanz zu etablieren. Bis heute, sagt Nele Hertling, klafft
hier eine künstlerische Lücke, und der Tanz ist den anderen Künsten
noch nicht gleichgestellt. Hertling begreift das auch als einen Misserfolg
in der eigenen Biografie. Bereits vor '68 engagiert sich Hertling in der
Westberliner Politszene, insbesondere im Republikanischen Club zu seiner
Gründungszeit. Der Versuch, die politische Aktion auch in die Akademie
zu tragen, stieß aber auf interne Widerstände. Nele Hertling
erinnert sich, wie Tatjana Gsovsky wutentbrannt mit ihrem Ledergürtel
auf den Tisch zu schlug, während sie gegen die aus ihrer Sicht unzulässige
Politisierung der Kunst protestierte. Und wieder bleibt der Tanz hinter
anderen Künsten zurück, er hat es im Vergleich auch schwerer,
thematisch explizit Stellung zu beziehen. Von den 68ern bis in die späten
achtziger Jahre bleibt aber der Versuch, die Barriere zwischen klassischem
Ballett und freiem Tanz zu überwinden, wobei das Problem, dass Ballett
im Gegensatz zum Tanz gefördert wird, stets aktuell bleibt. Der neu gegründete Runde Tisch Tanz widmet sich der Aufgabe, die Arbeitsbedingungen für den Tanz zu verbessern. Etwas traurig blickt Hertling heute auf ihr Ende in der Akademie der Künste zurück: die Institution erscheint ihr in den achtziger Jahren zunehmend müder und immer weniger risikobereit. Insofern zögert sie kaum, als ihr der damalige Berliner Kultursenator Volker Senator Ende 1986 die Vorbereitung des Kulturstadtjahres anträgt, das 1988 stattfinden soll. Die Voraussetzung ist deshalb glücklich, weil 1987 die 750-Jahr-Feier der Stadt ansteht, und im Zuge dessen bereits alles Repräsentative abgefeiert ist, Hertling kann sich also in ihrem Programm ganz auf zeitgenössische Kunst konzentrieren. Das Kulturstadtjahr ist auch die Geburtsstunde der "Tanz-Werkstatt 1988", bei der acht Compagnien für 18 Tage parallel in der Stadt sind, zudem ist auch Merce Cunningham mit ihrer Gruppe in Berlin - Hertling hält das nachträglich für eine chaotische aber erfolgreiche Aktion. So viel Theater aus Mittel- und Osteuropa wie 1988, als sich Berlin mit dem Slogan "In der Mitte Europa" präsentierte, war zuvor noch nicht in der Stadt gewesen. Bemerkenswert ist dabei, dass noch vor dem Fall des Eisernen Vorhangs, Albanien und Rumänien ausgenommen, es auch alle Produktionen über die Grenze geschafft hatten. Kritik bleibt aber in diesem Jahr nicht aus. Zuviel Geld sei in auswärtige Produktionen investiert worden, zuwenig in die strukturelle Veränderung der Berliner Kulturlandschaft. Hertling hält dem entgegen, dass es eben der Impulse von Außen bedarf, wenn vor Ort inspirierte Kultur entstehen soll. Die Diskussion, wie mit Fördermitteln umzugehen ist und wie man mit freien Theatergruppen umgehen soll, hat aber, glaubt Hertling, in der Rückschau viel bewirkt. Im Anschluss ans Kulturstadtjahr wird Nele Hertling 1989 Intendantin des Hebbel-Theaters, das noch mit Mitteln der 750-Jahr-Feier renoviert aber nicht fertig geworden ist. Mit einem glanzvollen Juliette-Greco-Konzert öffnet dieses Theater ohne eigenes Ensemble seine Pforten. Hertling und ihr Team, das aus Dramaturgen, Technikern und Werbefachleuten besteht, setzten dabei auf ein bewährtes Konzept. Das Programm wird mit Gastspielen bestritten und Koproduktionen, die in Zusammenarbeit mit internationalen Theatercompagnien entstehen. Dabei entsteht auch durch dauerndes Reisen ein europäisches Netzwerk und intensive Kontakte zu ausländischen Gruppen. Das europäische Netzwerk zur Unterstützung der New Yorker Wooster Group, die aus eigener Kraft ihren Unterhalt nicht mehr bestreiten kann, ist ein Beispiel für die produktiven Effekte einer riesigen Künstlerfamilie über Ländergrenzen hinweg. Während die Arbeit des Hebbel-Theaters von der Öffentlichkeit eher zögerlich wahrgenommen wird und auch die Anerkennung durch andere professionelle Theater lange ausbleibt, reagieren die Künstler sehr aufgeschlossen. So entscheidet sich Robert Wilson, gerade hier zu inszenieren und nicht an einem städtischen Theater, wo er nicht dieselbe Freiheit gehabt hätte. Zwar empfindet Nele Hertling ihre Arbeit als Intendantin als sehr befriedigend, sie räumt aber heute ein, dass das Familienleben besonders unter ihren dauernden Reisen sehr gelitten hat. Ihr Mann und die Kinder bringen wie sie selbst Opfer für eine Arbeit, die, wie sie meint, das Leben von allen aber auch bereichert hat. Im Jahr 2003 verlässt Nele Hertling das Theater und widmet sich seitdem überwiegend kulturpolitischer Arbeit. Als Präsidentin des deutsch-französischen Kulturrats sucht sie die politische Auseinandersetzung mit Regierungen. Mit Nachdruck betreibt sie die Förderung des Dialogs zwischen west- und osteuropäischen Theaterleuten und will dem noch immer verbreiteten Vorurteil entgegentreten, dass im Osten überwiegend Folklore entstehe. Hertling ist im Gegenteil davon überzeugt, dass gerade die Länder, die sich von einer Diktatur befreit haben, interessantes Theater hervorbringen. Aus der Unterdrückung kann eine thematische Stärke erwachsen, die weniger durch Freiheit als Notwendigkeit motiviert ist. In dieser Hinsicht ähneln osteuropäische Bühnen etwa dem kreativen Geschehen in Argentinien. Das hat sie insbesondere 1999 kennen gelernt, als das Hebbel-Theater an der Ausrichtung von "Theater der Welt" beteiligt war. Wenn es nach dem Alter geht, sagt Nele Hertling, ist sie heute ein Rentner. Nur, dass sie sich eben nicht so fühlt, und auch wenig zu tun hat mit all denen, die schließlich so klein und introvertiert geworden sind. Nele Hertling fühlt sich als Teil eines großen Ganzen und einer künstlerischen Familie, die über die ganze Welt verstreut ist. Sie empfindet ihre Erfahrung als Verpflichtung. Jüngere sollen davon profitieren. |