Madjiguène Cissé und Percy
MacLean: "Die Banalisierung des Schreckens"
Foto: Thomas Aurin
Die Fluten kommen über das Weltmeer und überschwemmen unsere
Länder. Die Schreckensbilder des Flüchtlings als gesichtslose,
anonyme Masse beschwören gerne Naturmetaphern. Aber schon jeder einzelne
Flüchtling scheint eine bedrohliche Figur. Seiner entorteten, entrechteten
Existenz, reduziert auf das nackte Leben, haftet ein Etikett des Barbarischen
an. Der Flüchtling sprengt die grundlegende Vereinbarung unserer
Zivilgesellschaft: den unverbrüchlichen Zusammenhang zwischen Menschsein
und Bürgertum. In der Figur des Flüchtlings manifestiert sich
ein ständiger Ausnahmezustand im Rechtsstaat. Eine marginalisierte
Gruppe wird zur entscheidenden Figur der Krise des modernen Nationalstaates
und zu einer politischen Schlüsselfrage. Der Flüchtling hat
keinen Platz in der Bürgergesellschaft, die Vollmitgliedschaft wird
ihm verweigert (es sei denn als ökonomisch einkalkulierbare Masse
der Saisonarbeiter). Er bleibt weitgehend unsichtbar, fällt aus der
öffentlichen Wahrnehmung und deren Repräsentationsmodellen heraus,
solange sich nicht eine Benetton Kampagne seiner zu Imagezwecken annimmt.
Gleichzeitig fixiert der Flüchtling eine Topographie der Ordnungsinstanzen,
Kontroll- und Überwachungsorgane und militärischen Zurichtungen:
Er markiert die Orte einer legalisierten Rechtlosigkeit. Der Ausnahmezustand,
in dem sich jeder Flüchtling befindet, der ihn gleichzeitig kontrolliert
und neutralisiert, ihn im selben Moment ein- und ausschließt, verweist
auf den neurotischen Gestus, mit dem die Zivilgesellschaft ihre obsolete
Ausgrenzungspolitik verteidigt. Die Veranstaltung "Dienstleistungen
an Unerwünschten" zeichnet eine verborgene Geographie nach,
innerhalb derer sich die Figur des Flüchtlings bewegt. Eingeladen
sind ExpertInnen, die sich im Berufsalltag mit Flüchtlingen auseinandersetzen
- Anwälte, Reporter, Sozialarbeiter, Aktivisten oder Theoretiker.
Die Gespräche zwischen den ExpertInnen behandeln Themen der globalen
Migration und deren Fluchtursachen, der Herstellung medialer Bilder des
Flüchtlings, der Trauma-Therapien, des Grenzregimes und Polizeiaktionen,
der rechtsphilosophischen Reflexion, der Selbstorganisation von Flüchtlingsinitiativen,
der Diskurse von Hannah Arendt und Giorgio Agamben.
Es sind Erfahrungsberichte, Analysen der Praxis, einzelne Fallstudien,
die das Thema erzählend verhandeln, jenseits der vorherrschenden
medialen Repräsentation und Bilderproduktion. Die einstündigen
Dialoge und kommentierten Filme in den Häusern der Kulissenstadt
"Neustadt" von Bert Neumann können vom umherwandernden
Publikum über Kopfhörer verfolgt werden, indem es sich über
verschiedene Kanäle in die simultan stattfindenden Gespräche
einschalten kann. Die Veranstaltung inszeniert in den theatralen Kulissen
der "NeuStadt" einen unhierarchischen Gesprächs- und Informationsraum,
in dem sich die Vorstellungskraft trainieren lässt nicht nur an imaginäre
Charaktere, sondern auch an die Wirklichkeit unbekannter Menschen zu glauben.
Beteiligte:
Dr. phil. Angelika Birck, Psychologin und Mitarbeiterin des Behandlungszentrums
für Folteropfer, Berlin | Dr. Jochen Blaschke, Direktor des Instituts
für Vergleichende Sozialforschung, Berlin | Christian von Börries,
Musiker, Dirigent, Berlin |Heiner Busch, Journalist, Polizeiexperte, Hg.
und Redakteur der Zeitschrift "Bürgerrechte und Polizei",
Bern/Berlin | Madjiguène Cissé, Autorin und ehem. Sprecherin
der Bewegung Sans Papiers | Georg Classen, Flüchtlingsrat Berlin
| Harun Farocki, Filmemacher, Berlin | Stephan Geene, Publizist und Filmemacher,
Berlin | Hubert Heinhold, Rechtsanwalt, München | Karin Hopfmann,
Dipl.-Philosophin, Flüchtlingspolitische Sprecherin der PDS-Fraktion,
Berlin | Sabine Horlitz, Redakteurin An Architektur, Berlin | Dr. Eva
Horn, Kulturwissenschaftlerin, Frankfurt/ New York | Enkutatash Kifle,
jugendlicher Flüchtling, Addis Abeba | Alexe Klosseck, Journalistin,
beteiligt am Aufbau des Mediennetzwerks indymedia | Percy MacLean, Direktor
des Deutschen Instituts für Menschenrechte, Berlin | Christopher
Nsoh und Mohammed Abdel Amine, Brandenburger Flüchtlingsinitiative
| Natascha Sadr Haghigian, Arbeitslose, Berlin | Florian Schneider, Medienaktivist,
Filmemacher, Mitbegründer von "Kein Mensch ist illegal",
München | Mentor Selmani, jugendlicher Flüchtling, Prisztina
| AG significans, Berlin | Galerdene Tsegmeg, jugendlicher Flüchtling,
Mongolei | Eyal Sivan, Filmregisseur, Haifa/ Paris | Dzoni Sichelschmidt,
Sprecher der Roma-Protestkarawane, derzeit Düsseldorf | Stefan Thimmel,
Architekt, Journalist, Berlin | Prof. Dr. phil. Joseph Vogl, Professur
für Geschichte und Theorie Künstlicher Welten, Weimar | Traudl
Vorbrodt, Erzieherin und Betreuerin der WeGe ins Leben e.V., Mitarbeiterin
bei Pax Christie und Mitglied der Härtefallkommission Berlin | Dorothee
Wenner, Journalistin, Filmemacherin, Berlin | Armin Wünsche, Kameramann
in Krisengebieten, Berlin |
Installation : Anselm Franke und Hannah Hurtzig
Mitarbeit : Patricia Hecht
Veranstaltungsorganisation : Jana Bäskau
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